"Treffen staatsfeindlicher Revoluzzer"
Rainer Heiss siegt knapp vor Manuel Herz beim ersten Schongauer
Poetry-Slam
VON EVA WERNER Schongau - Zwei Beiträge
lagen in der Publikumsgunst beim ersten Schongauer Poetry-Slam im
Löwenhof ganz vorne: Der "moderne Minnesang" von
Manuel Herz und die kontemplativen Betrachtungen über die
Nachteile von Lesern im Leben von Rainer Heiss. Von den etwa 130
Besuchern, die bis zu sechs Punkte pro Teilnehmer vergeben konnten,
erhielten beide mehr als 400 Punkte. Mit nur zwei Stimmen Vorsprung
siegte dann Rainer Heiss aus Schongau vor Manuel Herz aus Bad
Bayersoien und erhielt den Publikumspreis Winnie Pur. Auf den
dritten Platz kam Rainer Hofmann mit seinen mystischen Texten von
Höllenfeuer und Drachen. Den vierten Platz teilten sich Simon
Nördlinger, eine Gruppe mit dem Namen "Die
Anfänger" und Gudrun Kropp.
Der Kulturförderverein
"lechwärts", Veranstalter des ersten Poetry-Slam,
will das Ereignis jetzt jedes Jahr wiederholen. Vorstandsmitglied
Werner Friebel: "Ich bin überwältigt, wie gut unsere
Aktion angekommen ist.
Besonders die Auftritte der beiden Sieger rissen
das Publikum mit. Manuel Herz zeigte sich trotz Erkältung gut
gelaunt und locker. "Normal singe ich halt eine Oktave
höher", erklärte er einfach zu Beginn seines
Auftritts, erwähnte ganz nebenbei seine angeblichen
Aufenthalte vor riesigem Publikum und einen bei den Mormonen in
Salt Lake City, der ihm nicht so gut bekommen sei. Dann legte der
Abiturient los mit Gitarre und dem schrägen Gesang seiner
überzeichneten Klagetexte wie: "Ich kann keine
Buchstabensuppe mehr essen, ohne Deinen Namen zu schreiben".
Seine Eigenkompositionen mit viel Witz und Selbstironie wurden mit
großem Jubel bedacht.
Der Auftritt von Rainer Heiss war distanzierter.
Nach harten Klängen der Band "Blut und Eisen" ein
kurzer Hinweis des Deutschlehrers auf seine Unfähigkeit,
unterhaltsam zu schreiben und ordentlich vorzulesen. "Ich habe
mich hier unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eingeschlichen,
weil es Essen und Getränke gratis gibt." Es folgte seine
Botschaft, die er wie ein Prediger verkündete: "Lesen ist
schrecklich. Man muss ehrlicher Weise ergänzen: Lesen ist
etwas für Schrullige. Lesen ist langweilig". Es folgte
eine lange Litanei schlechter Eigenschaften von Lesern, wie
"Leser sind verschrobene Einzelgänger. Leser sind
sportliche und körperliche Versager. Leser sind ungesellig.
Leser sind regelechte Geselligkeits-Verweiger."
Auch Bücher mussten sich der Kritik von
Rainer Heiss unterziehen: "Bücher sind kein
zeitgeist-konformes Freizeit-Equipment, Bücher sind
unspektakulär. Bücher sehen abartig unsexy aus."
Leser, so Heiss in seiner ironischen Darbietung, wüssten nur
unwichtige Dinge wie die Namen der deutschen Bundesländer, die
der Minister und Ministerinnen Bayerns und dass Legislaturperioden
des Bundestags gewöhnlich vier Jahre dauern. Sie wüssten
dagegen nicht, wie belebend eine Gehirnwäsche sei, die vom
Druck der eigenen Entscheidung befreie. So gesehen, folgerte Heiss,
"ist ein Poetry-Slam eigentlich ein lediglich als
Kulturveranstaltung getarntes Treffen subversiver,
staatsfeindlicher Revoluzzer".
Hier also der Slam-Text des Winners:
"Leser"
von Rainer Heiß
Aus Hoffnung auf Strafverschonung und aus Respekt
vor dem hoch verehrten Publikum vorab ein
Geständnis:
Ich habe mich hier nur unter
Vorspiegelung falscher Tatsachen eingeschlichen, weil es dann Essen
und Getränke gratis gibt.
Ich kann nämlich weder
unterhaltsam schreiben noch ordentlich vorlesen.
Deshalb schnell zur
Hauptsache!
Arno Schmidt hat einmal
gesagt:
Nennen Sie mir einen anständigen
Schriftsteller, der gern geschrieben hätte:
Lieber zeitlebens Scheiße
schippen!
Und:
Lesen ist schrecklich.
Man muss ehrlicher Weise
ergänzen:
Lesen ist etwas für
Schrullige.
Lesen ist
langweilig.
Lesen ist alles andere als
trendy.
Lesen hat in etwa die
sexuelle Anziehungskraft einer Schnapp-Falle für
Grizzly-Bären.
Leser sind verschrobene
Einzelgänger.
Leser sind sportliche und
überhaupt körperliche Versager.
Leser sind
ungesellig.
Leser sind regelrechte
Geselligkeits-Verweigerer.
Leser sind
asozial.
Bücher sind kein
Zeitgeist-konformes Freizeit-Equipment.
Bücher sind
unspektakulär.
Bücher sehen abartig
unsexy aus.
Schrecklich
unglamourös.
Bücher bieten auch
keinerlei Möglichkeit zur modischen Entwicklung.
Es gibt keine coolen
Tauschbörsen für Lesezeichen.
Wenn es sie gäbe, dann
würde davon nicht live auf MTV oder RTL-Exklusiv berichtet
werden.
Es gibt keine abgefahrenen
Gangster-Ghettos, in denen ultrafett-stylishe
Buchrücken-Trends entstehen.
Es gibt daher auch nicht die
Möglichkeit, dass solche Trends beispielsweise vom
Rowohlt-Verlag aufgegriffen und von Coca-Cola oder MC Donald´s
gesponsert werden.
Es werden sich folglich
solche Trends auch nicht in einer hippen Underground-Jugendkultur
der Bücherfreunde über die ganze Welt
verbreiten.
Lesen ist eine
unerwünschte Freizeitbeschäftigung.
Bücher werden nicht von
E.on präsentiert.
Bücher haben keine
Werbepartner, haben keine Werbepausen.
Leser haben nicht
ständig den Drang, etwas tun zu müssen ohne zu wissen
was.
Leser haben nicht dauernd
das Gefühl, ihnen fehle etwas.
Die Gemeinschaft der
Lesenden verweigert sich sämtlichen Modeneuheiten.
Leser leben nicht mit der Illusion, sie
bräuchten neue Handy-Klingeltöne aus dem
Internet.
Leser kennen den Kick einer
schicken Schamrasur nicht.
Leser sind so out of time,
dass sie sich nicht ständig neu einkleiden.
Es soll Leser geben, die
wissen nicht, welche Turnschuhe man gerade trägt
und welche man absolut nicht
tragen darf.
Sie wissen noch nicht
einmal, dass Turnschuhe heute Sneakers heißen.
Leser sind folglich
schlechte Konsumenten.
Sie versagen in der ihnen
zugedachten Rolle als gehorsame Käuferschicht.
Lesen ist also eine
arbeitsplatzfeindliche Freizeitbeschäftigung.
Lesen schädigt die
deutsche Volkswirtschaft.
Leser haben obendrein durch
ihr absurdes Hobby die lästige Angewohnheit, bei
Gesprächen teilweise über zehn Minuten bei nur einem
Thema zu bleiben.
Und: Sie kokettieren mit
ihrer perversen Konzentrationsfähigkeit.
Das alles ist natürlich
ebenso fatal wie unverzeihlich.
Leser werden deshalb zurecht
gemieden, werden links liegen gelassen, angerempelt, getreten und
bespuckt.
Soziale Ausgrenzung ist nur
die gerechte Strafe für ihre selbst verschuldete
Außenseiter-Existenz.
Sie wollen es ja nicht
anders.
Leser sind nicht von dieser
Welt.
Leser sind scheiße!
Ohne es zu wissen stimmt
Kurt Tucholsky dem zu, wenn er sagt:
Man kann den Hintern schminken, wie man
will,
es wird kein ordentliches Gesicht
daraus.
Doch
weiter:
Leser wissen nicht, wie der
Hund von Bart Simpson heißt.
Leser kennen die Ehefrau von
Al Bundy nicht.
Es soll Leser geben, die
kennen die Hauptdarstellerinnen von Sex and the City
nicht,
wissen nicht, wer dort wann,
wie, warum und mit wem den Geschlechtsakt vollzogen hat.
Leser wissen nicht, dass
Renate aus dem Marienhof nicht mehr lange zu leben hat.
Es soll Leser geben, die
nicht wissen, von wem Heidi Klum momentan schwanger ist.
Leser kennen den aktuellen
Haarschnitt von David Beckham nicht.
Leser wissen nicht, was mit
Schumis Reifen dieses Jahr nicht stimmt.
Mancher weiß nicht,
dass Verona nicht mehr Feldbusch heißt oder mit wem Dieter
Bohlen derzeit die Matratze teilt.
All diese
Gesprächsthemen bleiben ihnen wegen ihrer
Bücher-Besessenheit verschlossen.
Sie können daher bei
nichts wirklich Wichtigem mitreden.
Leser wissen stattdessen
ausschließlich Unwesentliches:
Leser kennen einen dritten
deutschen Schriftsteller,
hoffnungslose Fälle
einen vierten oder sogar fünften.
Leser wissen, warum
Deutschland einmal das Land der Dichter und Denker genannt
wurde.
Sie dürfen deshalb
nicht bei der allgemeinen Volksverdummung dabei sein.
Leser wissen, dass Ahab
etwas mit einem Wal zu tun hatte, Bismarck aber nichts mit
Heringen.
Leser kennen den Unterschied
zwischen Kelten und Keltern.
Leser wissen, dass die DDR
mehr war als ein Big-Brother-Container für onkelhafte
Staatschefs mit Retro-Hüten.
Sie können daher nicht
sanft und orientierungslos dahinschweben in bezugsloser
Gleichgültigkeit.
Das hat schon Hugo Ball
gewusst und deshalb gefordert:
Man sollte ganze Bibliotheken verbrennen und nur
noch gelten lassen, was jeder auswendig weiß.
Aber es wird ja noch
schlimmer:
Leser wissen, dass das Amt
des US-Präsidenten ursprünglich nicht vererbt
wurde.
Leser ahnen auch, dass
zwischen einem Anschlag auf ein Hochhaus in Amerika und der
Abschaffung bürgerlicher Grundrechte in Deutschland kein
notwendiger Zusammenhang besteht.
Leser kennen unnützer
Weise alle deutschen Bundesländer.
Leser kennen die Minister
und Ministerinnen Bayerns.
Leser wissen, dass auch in
den Bundesländern ein Mehrparteiensystem erlaubt
wäre.
Leser wissen, dass
Legislaturperioden im Bundestag für gewöhnlich vier Jahre
dauern.
Leser wundern sich deshalb
manchmal über die Politik.
Leser wissen nicht, wie
belebend gerade hier eine gründliche Gehirnwäsche sein
kann, wie sie andere aus einer regelmäßig hohen Dosis
Werbe-, Serien- und Promi-News-Cocktails saugen.
Dabei befreit diese
Gehirnwäsche von dem Zwang, ständig selbst nachdenken zu
müssen,
sie erlöst vom Druck
der eigenen Entscheidung.
Daher versagen Leser in
ihrer Rolle als willenlose Untertanen.
So gesehen ist ein
Poetry-Slam eigentlich ein lediglich als Kultur-Veranstaltung
getarntes Treffen subversiver, staatsfeindlicher
Revoluzzer.
Wenn das herauskommt, werden
derartige Zusammenrottungen von Renitenten künftig mit
Sicherheit verboten!
Jetzt aber zum harmonischen
Ausklang doch noch kurz etwas Literarisches.
Ein Sonett von Bert
Brecht:
Sonett Nr. 5. Kuh beim Fressen
Sie wiegt die breite Brust an holziger
Krippe
Und frisst. Seht, sie zermalmt ein
Hälmchen jetzt!
Es schaut noch eine Zeitlang spitz aus ihrer
Lippe
Sie malmt es sorgsam, dass sie´s nicht
zerfetzt.
Ihr Leib ist dick, ihr trauriges Auge
bejahrt;
Gewöhnt des Bösen, zaudert sie beim
Kauen
Seit Jahren mit emporgezognen Brauen
–
Die wundert´s nicht, wenn ihr
dazwischenfahrt!
Und während sie sich noch mit Heu
versieht
Entzieht ihr einer Milch. Sie duldet
stumm,
Dass seine Hand an ihrem Euter
reißt:
Sie kennt die Hand. Sie schaut nicht einmal
um.
Sie will nicht wissen, was mit ihr
geschieht
Und nützt die Abendstimmung aus und
scheißt.
Vielen
Dank!
Gute
Nacht!
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